Irgendetwas wissen die – obwohl sie als moderne Bühnen-Menschen auch die Oberfläche lieben – über Abgründe. Darüber, dass da kein fester Grund ist unter ihren Füssen und unter diesen Brettern, die die Welt bedeuten. Sie wissen etwas über Einsamkeit, über das Verdammtsein zum Erfolg, über den Kampf um ein bisschen Rampenlicht. Gerade weil sie das Schnelle, das Lustige, den Pop und das Direkte virtuos beherrschen, wissen sie auch, was es kostet, den Ernst und das «echte Gefühl» zu verweigern. Im Leben wie auf der Bühne.
Tschechow wusste es auch. In diesem Sinne war die Begegnung von Christopher Rüping und seinen Spieler:innen mit diesem Stück, das im Kern ein Metastück über Theater ist, nur eine Frage der Zeit. Sie scheint zwingend. Niemand verkörpert und führt das zeitgenössische Theater so hinreissend vor wie Maja Beckmann – das Fleisch gewordene, moderne Abbild der von Tschechow geschriebenen, exzentrischen Theaterdiva und Dichtermutter Arkadina. Gnadenlos zerquetscht von ihr und anderen ihrer Generation wird Kostja, auch das steht so geschrieben, Benjamin Lillie scheint dafür geboren. Und niemand morpht sich so übergangslos vom Bühnenkantengnom zur Märchenprinzessin, zur Influencerin und wieder zurück, wie Wiebke Mollenhauer. Die Spieler:innen (meistens) oben auf der Bühne, die Figuren, die sie mal mehr, mal weniger theatral verkörpern, die Menschen unten im Saal: Das ist alles irgendwie eins und alles irgendwie am Ende eine grosse Tschechow‘sche Wunde.
Wie kaum jemand zur Zeit schaffen es Christopher Rüping, sein Team und seine wunderbaren Schauspieler:innen, das Theater in dem grossen, suchenden Straucheln, das es im Moment ausmacht, so lange auf’s Glatteis zu führen, bis es – aus Notwehr quasi – wieder sein Haupt erhebt und zeigt, was es trotz allem immer noch kann: Drama, grosses Gefühl und Poesie.
– Julie Paucker