Igor Cardellini und Tomas Gonzalez adaptieren ihren erfolgreichen Site-Specific-Walk für Lugano. «El Viaje» ist eine Reise, begonnen hat sie vor einigen Jahren, als verschiedene Künstler:innen aus der Schweiz, aus Brasilien und Argentinien sich zum «Colectivo utópico» zusammenschlossen. Gemeinsam stellten sie sich die Frage, wie aktuelle und frühere Utopien unsere Gesellschaften geprägt haben, wie sich diese Landschaften und Gemeinschaften in Norden und Süden zerteilten und wie sie zu Grenzen und sozialen und kulturellen Differenzen führten.
Ausgehend vom jeweiligen Schauplatz schreiben die beiden Regisseure gemeinsam mit einem Gast – der später Guide des Walks wird – einen neuen Text, in dem Elemente aus allen vorangegangenen Performances enthalten sind. Fürs Tessin haben sie sich für eine Zusammenarbeit mit der Künstlerin Anahì Traversi entschieden. Der Walk handelt von der Begegnung des ganz Lokalen mit dem Globalen. Davon, das Alltägliche neu zu sehen, im Kontext von Kolonialisierung und Globalisierung, im Spannungsfeld nationaler und internationaler Machtverhältnisse. Durch die Augen der Künstlerin, die mit dem Veranstaltungsort durch eine Geschichte der Zuwanderung verbunden ist, betrachtet man Landschaften, Quartiere, Strassenecken. Die Gemeinde Collina d’Oro, durch die der Walk führt, ist ein relativ junger Zusammenschluss der ehemals unabhängigen Gemeinden Agra, Gentilino, Carabietta und des berühmten Montagnola, der Wahlheimat von Hermann Hesse. Das Gebiet schliesst nahezu die gesamte gleichnamige – von ausgedehnten Grünflächen und Villenquartieren geprägte – Hügelzone an der Peripherie Luganos ein.
Die Biografie von Anahì Traversi, deren Schwester und Eltern aus politischen Gründen kurz vor ihrer Geburt aus Argentinien in die Schweiz geflohen sind, sowie ihre zweite Muttersprache legen sich über lokale Anekdoten der Collina d‘Oro. Sie lassen soziale und historische Fakten über das Territorium und dessen demografischer Entwicklung in neuem Licht erscheinen und vermengen sich mit den philosophischen und politischen Reflexionen des Colectivo utopicó. So wird man im Gehen Teil eines sanften Prozesses der Dekolonialisierung, die gemeinsame Erfahrung der Umgebung formt eine neue, flüchtige Gemeinschaft.
– Julie Paucker